In dem „Familienroman“ So sind wir von Gila Lustiger findet sich eine Schilderung, die offenbar autobiographisch ist. Die Autorin entdeckt in einer Pariser Buchhandlung einen deutschsprachigen Sammelband von 1995, in dem prominente Zeitgenossen über ‚ihr‘ Ende des Zweiten Weltkriegs berichten. Im Inhaltsverzeichnis findet sie den Namen ihres Vaters, Arno Lustiger, und ist überrascht, denn in seiner eigenen Familie hat er über diese Zeit, als er Häftling in deutschen Konzentrationslagern war, nie erzählt: „Ich schlug Seite vierundzwanzig auf und las, und während ich las, beruhigte ich mich. Und dann? Dann nichts! Ich las zum ersten Mal, was mein Vater mir während meiner Kindheit verschwiegen hatte.“
Fünfzig Jahre nach der NS-Herrschaft brach er sein Schweigen
Arno Lustiger hatte die Sorge, dass diese Erinnerung so mächtig werden würde, dass er kein ‚normales Leben‘ mehr in der Bundesrepublik führen könnte. Erst fünfzig Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, als ein Redakteur des Hessischen Rundfunks ihn bat, diesen Teil seiner Lebensgeschichte aufzuschreiben, brach er sein Schweigen – zunächst im Radio, dann im Buch und schließlich auch in seiner Familie. Arno Lustiger wurde am 7. Mai 1924 in Będzin geboren. Sein Vater war ein angesehener Bürger, Stadtrat und Besitzer einer Maschinenfabrik. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen wurde die jüdische Bevölkerung systematisch schikaniert und entrechtet.
1943 richtete die NS-Verwaltung ein Ghetto ein. Schon wenig später wurde es wieder geräumt und die Familie Lustiger in das schlesische Zwangsarbeitslager Annaberg verbracht. Arno Lustiger musste vorn dort in das Konzentrationslager Ottmuth und dann in das KZ Blechhammer wechseln, das ein Außenlager von Auschwitz war. „Das Werk Blechhammer“, erinnerte sich Arno Lustiger, „war von höchster strategischer Bedeutung für die deutsche Kriegsführung und wurde deshalb oft bombardiert, wobei viele Häftlinge getötet oder wegen des Verdachts der Plünderung durch Erhängen hingerichtet wurden. Es wurden auch oft Prügelstrafen bei Anwesenheit des gesamten Lagers angewandt. Wer nicht arbeiten konnte, wurde ins Hauptlager Auschwitz verbracht und dort vergast, wie mein Vater, den ich zwei Wochen verpasste, als ich im KZ Blechhammer eintraf“.
Flucht während Todesmarsch durch Deutschland
Am 21. Januar 1945 begann die ‚Evakuierung‘ des Lagers, ein zwölftägiger Todesmarsch ins KZ Groß-Rosen. Von dort ging es über Buchenwald zum KZ Langenstein im Harz, wo die Häftlinge Stollen für eine unterirdische Flugzeugfabrik graben mussten. Als das Lager vor den anrückenden Amerikanern aufgelöst wurde und die Häftlinge auf einem weiteren Todesmarsch durch Deutschland irrten, gelang Arno Lustiger die Flucht.
Er blieb in Deutschland, wanderte nicht nach Israel aus und ließ sich in Frankfurt am Main als Kaufmann nieder. Er wurde Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde und Mitinitiator des Jüdischen Museums. Israel blieb für ihn Hoffnung, wenn es noch einmal anders kommen sollte. Für Kritik an Israel hatte er deshalb kein Verständnis. Der als überaus höflich und warmherzig beschriebene Lustiger konnte aufbrausend und unnachgiebig werden, wenn er Israel angegriffen glaubte.
Topographie des jüdischen Widerstands
Mit 65 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch. Es war das Ergebnis einer großen Wut darüber, dass jüdische Menschen immer wieder als Schafe verunglimpft wurden, die willig zur Schlachtbank getrottet seien. Als Autodidakt, ohne wissenschaftliches Studium, legte er dar, was die Geschichtsforschung versäumt hatte. Seine Dokumentationen, so der Historiker Henning Ritter in seinem Nachruf, „waren eine Art Topographie des jüdischen Widerstands“. „Seine Bücher über die Juden im Spanischen Bürgerkrieg (Shalom Libertad!), seine Darstellung des jüdischen Widerstands 1933-1945 (Zum Kampf auf Leben und Tod), über Stalin und die Juden (Rotbuch), über die jüdische Kultur in Ostmitteleuropa, schließlich seine Autobiographie über sein Leben im Widerstand (Sing mir Schmerz und Tod) wurden stark beachtet und fanden viele Leser.“
Sein letztes Buch, das 2011 erschien, handelt von Menschen, die während der NS-Herrschaft Juden vor dem sicheren Tod bewahrt hatten. Am Auschwitz-Gedenktag 2005 sprach Arno Lustiger zusammen mit Wolf Biermann vor dem Deutschen Bundestag und beklagte die mangelnde Forschung über die Todesmärsche von KZ-Häftlingen. Arno Lustiger starb am 15. Mai 2012 in Frankfurt.